27.06.2021 4. Sonntag nach Trinitatis

27.06.2021 4. Sonntag nach Trinitatis

Predigt: 1. Mose 50:15-21

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Liebe Mitchristinnen und Mitchristen!

Wir haben gerade einen sehr markanten Satz vernommen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Dieser Satz bringt die ganze Situation auf den Punkt. Der Lebensweg des Josef war ein Leidensweg. Er musste viel ertragen. Und lange Zeit sah es nicht rosig um Josef aus. Sein Leben stand sogar mehrmals in Gefahr. Doch nun hat sich die Lage verkehrt. Diejenigen, die mit ihm Übles vorhatten, kommen als Bittsteller in der Not zu ihm. Einst fühlten sie sich Haus hoch überlegen, doch nun zittern sie selber vor ihrem Bruder, den sie so schmählich behandelt hatten.

Heute hören wir den guten Ausgang einer langen Geschichte, die einst so furchtbar begonnen hatte. Josef war anders als seine Brüder. Er konnte gut Träume deuten. Er wirkte deshalb oft auch etwas arrogant auf andere. Doch das merkte er gar nicht. Vermutlich war er einfach ein Mensch, der einfach so in den Tag ging und unbeschwert über all das sprach, was ihm so in den Sinn kam oder begegnete. Doch dieses Verhalten wirkte auf seine Brüder hochmütig. Sie warfen ihm vor, dass er sich um jede Drecksarbeit drücken würde, dafür mit Rückendeckung des Vaters seine Brüder arbeiten lassen würde. Deshalb nutzten sie eines Tages die Chance, den unliebsamen Bruder an eine Karawane zu verkaufen. So wurde Josef zum Unfreien. Er kam nach Ägypten, fiel wiederum durch seine Traumdeutungen auf und wurde vom Pharao zu Rate gezogen. Seine Klugheit und Weisheit beeindruckten derart, dass Josef immer mehr im fremden Reich aufstieg, bis er eines Tages der zweite Mann im Reich war. Josef sorgte dafür, dass es eine intelligente Vorratshaltung in Ägypten gab. Und so konnte eine plötzlich auftretende Hungersnot nicht schaden. Josef hatte reichlich Vorräte angelegt. So kamen viele Menschen aus zahlreichen Völkern nach Ägypten, um in ihrer Not um Vorräte zu bitten. Darunter waren nun auch die Brüder Josefs. Die Menschen also, die Josef in eine furchtbare Lage gebracht hatten, erschienen nun als Bettler von Josef. Josef hatte sie erkannt und ihnen die Augen geöffnet. Jetzt standen die Brüder vor Josef und hatten Angst. Ihre große Angst war begründet in der Sorge, dass Josef sich an ihnen rächen könnte. Er hatte sie nun in Händen. Er hätte mit ihnen alles tun können. Doch Josef geht einen anderen Weg.

Die Brüder Josefs versuchen, sich zu retten. Sie bleiben bewusst nicht bei der Wahrheit, denn sie haben Angst und Sorge um ihr Leben. Und hier wird es nun auch spannend für uns ganz persönlich. Die Brüder Josefs greifen in ihrer Not zu einem Mittel, dass wir Menschen gerne gebrauchen, zur Lüge. Weil die Wahrheit uns so peinlich dastehen lassen würde, weil im Angesicht der Wahrheit die eigene Blöße zutage treten würde, greifen wir Menschen immer wieder zur Unwahrheit. Man möchte von sich ablenken. Es ist einfach unangenehm, wenn andere einem an die Nieren gehen. Und so weichen wir gerne aus. Manche Forscher behaupten sogar, dass wir zweihundertmal am Tag lügen. Auch wenn es noch andere Werte gibt, die deutlich geringer ausfallen, so ist es dennoch erschreckend. Denn dann bedeutet das, dass es unter uns Menschen keine Wahrheit und Aufrichtigkeit geben würde. Aber warum lügen wir Menschen so leicht? Dahinter steht die Sorge, das Gesicht zu verlieren. Wir wollen nicht schlecht vor anderen da stehen. Und so ist das Erschrecken über die eigenen Fehler groß. Zugleich ist das Eingestehen von Fehlern für viele ein Ausdruck von Schwäche und Scheitern. Und diese Blöße möchte man sich nicht geben.

Josefs Brüder bedienen sich vor ihrem Bruder wiederum der Lüge als Mittel zum Zweck. Und sie scheuen sich nicht einmal, für ihre Zwecke, den eigenen Vater zu missbrauchen. Dieser war mittlerweile verstorben. Aber die Brüder Josefs legen dem Verstorbenen noch Worte in den Mund, die ihn gnädig stimmen sollen. So behaupten sie, dass der Vater darum gebeten habe, dass Josef seinen Brüdern vergeben möge. Das ist natürlich sehr geschickt.

Doch Josef durchschaut auch diese Lüge. Er sieht die Not seiner Brüder. Und es berührt ihn, wie sehr sie sich winden müssen und Angst haben vor ihm. Die ach so frechen Brüder von einst, die vor nichts zurückgescheut haben, sind nun in die Enge getrieben und zittern um ihr Leben. Josef hätte alle Macht, sich nun an seinen Brüdern zu rächen. Er könnte die Situation ausnutzen. Doch das liegt ihm fern.

Josef weint. Er ist im Herzen gerührt. Da sind sie vor ihm, seine Brüder, mit denen er durchaus mehr als ein Hühnchen zu rupfen hätte. Aber er sieht ihre Angst und ihre Not. Und es geht ihm ans Herz, in welchem Zustand sie sich befinden. Josef muss nicht erst durch Tricks zur Vergebung bewogen werden. Josef hat ein Herz für seine Brüder, für die Brüder, die eigentlich eine Strafe verdient hätten.

Würde das uns auch so gehen wie Josef? Wären wir auch zu Tränen gerührt vom Anblick der so geängstigten einstigen Widersacher? Oder würden wir uns freuen: „Jetzt sind sie im meiner Hand! Jetzt ist die Zeit der Rache!“? Ganz offen gesagt, kann einem da schon mal der Gedanke kommen, die Lage auszunutzen. Doch was hätten wir davon? Würde es uns etwas bringen, wenn nun die Gegner am Boden liegen? Würde das uns glücklicher machen? Wohl kaum. Nicht umsonst sagt Gott: „Die Rache ist mein!“ Das entlastet uns. Das nimmt uns den Druck. Wir müssen uns nicht von den finsteren Rachegedanken bestimmen lassen. Doch fällt es uns so leicht, loszulassen? Können wir einfach sagen: „Gott, mach Du es!“?

Auf jeden Fall bewahrt uns eine Haltung, die vor der Rache zurückschreckt. Wer voll Rachegelüste ist, der ist fremdbestimmt. Finstere Gedanken bereiten düstere Aussichten. Die Last bleibt auf mir liegen. Sie verschlimmert sich sogar noch. Das Verhalten der Brüder Josefs zeigt uns, wie sehr sie von Angst und Lüge, von Unfreiheit und ihrer Vergangenheit bestimmt sind.

Demgegenüber fasziniert mich Josef. Er zeigt wahre Größe. Er lässt sich von der Situation seiner Brüder anrühren. Es geht ihm zu Herzen. Er wendet sich ihnen zu, spricht ihnen Frieden zu. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Stattdessen spendet Josef sogar Trost. Das mag unfassbar sein angesichts dessen, was die Brüder ihm angetan haben. Und doch ist es eine große Befreiung. Die Haltung Josefs ermöglicht einen Neuanfang. Sie stiftet neue Gemeinschaft und Frieden.

Ein großes Wort ist dabei Vergebung. Josef lässt sich nicht von den Brüdern zur Vergebung zwingen. Vielmehr geht er den Schritt der Vergebung aus freiem Herzen. Und das ist ein guter Schritt. So gibt Josef alles belastende ab. Er weiß, dass es in Gottes Händen am rechten Platz ist. Aber ihn selber braucht das, was gewesen ist, nicht mehr zu belasten.

Und das ist auch für uns eine Sichtweise, die uns bei all dem, was uns im Laufe der eit widerfahren kann, hilft. Wir dürfen abgeben. Wir dürfen aufblicken. Wir dürfen auf Gott schauen und trauen. Denn er führt uns einen Weg, der wirklich Neues eröffnet.

„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Die Brüder wollten einst Josef loswerden. Es hatte sie etwas an ihm gestört. Und wenn er erst einmal weg ist, dann meinten sie, wären sie frei. Doch das war der falsche Weg. Gottes Weg ist ein anderer. Er mutet dem Josef schon auch etwas zu. Er gibt ihm seine Brüder in die Hand. Aber gibt ihm auch die Chance zur Heilung der Beziehungen. Gottes Weg ist der Weg der Befreiung, der Heilung der Wunden, die Menschen einander zufügen. Gott macht frei. Deshalb ist es gut, wenn wir uns ihm anvertrauen und nicht den allzu menschlichen Weg gehen. Denn mit den Lebenslügen kommen wir nicht weiter. Sie machen uns krank, lassen uns bedrückt sein, nehmen uns die Freude am Leben.

Was sind unsere Schritte, die wir gehen können? Machen wir es wie Josef! Da, wo uns die Vergangenheit belastet, gehen wir die Schritte der Vergebung und der Zuwendung. Tragen wir bewusst zur Heilung unserer Beziehungen bei durch die Vergebung. Zeigen wir Größe wie Josef! Dann erkenn wir, was es heißt: Gott gedachte es gut zu machen.“

Ihr Pfr. Carsten Klingenberg